Aus einem Anfang August erschienenen Wissenschaftlichen Update der Swiss National Covid-19 Science Taskforce geht hervor, dass die wöchentliche Zahl der verabreichten Impfdosen in der Schweiz seit Anfang Juni stark abgenommen hat. Falls die Impfgeschwindigkeit nicht wieder erhöht werden kann, werden erst Ende September 60% der Gesamtpopulation eine erste Impfung erhalten haben, so aktuelle Prognosen der Experten. Impfkampagne quo vadis?
Entscheidend für die potenzielle Krankheitslast in der Bevölkerung und die mögliche Belastung des Gesundheitswesens sei die Zahl der Menschen in den verschiedenen Altersklassen, die keine Immunität gegen SARS-CoV-2 haben, dies gilt insbesondere für die Gruppe der über 50-Jährigen [1]. Zwar wurden bis 01.08.2021 bereits rund 50% der Schweizer Bevölkerung vollständig geimpft (Abb. 1), aber es bleibt eine grosse Gruppe nicht immuner Personen, so dass es erneut zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen kann [2]. Im Drei-Phasen-Modell des Bundesrates (Schutz-, Stabilisierungs-, Normalisierungsphase) erfolgt der Übergang in Phase 3 zum Zeitpunkt, wenn alle impfwilligen erwachsenen Personen vollständig geimpft sind. Im Moment gibt es in der Schweiz in jeder Altersklasse noch mindestens gleich viele Menschen ohne Immunität wie bereits Infizierte [1]. In den Altersklassen bis 50 Jahren haben 2–3 mal mehr Menschen keine Immunität als bislang infiziert wurden. In den Altersklassen ab 50 Jahren haben etwa gleich viele Menschen keine Immunität wie bislang infiziert wurden.
Erhöhung der Durchimpfungsrate weiterhin Priorität
«Wenn ein grosser Teil der momentan nicht immunen Menschen infiziert würde, dann wäre die erwartete kumulative Krankheitslast ähnlich gross oder grösser als die gesamte Krankheitslast im bisherigen Pandemieverlauf», so eine Prognose der Swiss National Covid-19 Science vom 03.08.21 [1]. Die Erhöhung der Anzahl geimpfter Personen habe deshalb weiterhin höchste Priorität, weil aufgrund der ansteckenderen Delta-Variante und des deutlich weniger strengen Massnahmendispositivs mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen gerechnet werden müsse (BAG, 28.07.21) [2]. Im Vergleich zu anderen Ländern in West- und Südwesteuropa ist sowohl die Impfgeschwindigkeit wie auch die Impfabdeckung in der Schweiz tiefer. So beträgt in Grossbritannien und Spanien der Prozentsatz der über 70-Jährigen, die nicht doppelt geimpft sind, nur etwa 2% [3] bzw. 3% [4], in der Schweiz hingegen rund 17% [5]. Bei den über 50-Jährigen – also der Altersklasse, die für die Hospitalisationen besonders relevant ist – liegt in Grossbritannien der Anteil der nicht doppelt Geimpften bei unter 5%, in der Schweiz sind es um ein Vielfaches mehr [1,3]. Im Gegensatz dazu ist bei anderen Infektionskrankheiten in der Schweiz die Impfabdeckung hoch im europäischen Vergleich [6]. Daraus schliessen die Autoren der Science Taskforce, dass die beobachtete Differenz in der Covid-19-Impfgeschwindigkeit und -Impfabdeckung zwischen der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern nicht einem grundsätzlichen kulturellen oder organisatorischen Unterschied entspringt, sondern durch verstärkte Anstrengungen verkleinert werden kann [1].
Wie kann Impfskepsis entgegnet werden?
Eine auf der vor einigen Monaten durchgeführten FORS COVID-19 MOSAiCH Erhebung basierende Datenauswertung zeigt, dass mit ungefähr 22% ein beträchtlicher Anteil der 1245 befragten Personen* zum damaligen Zeitpunkte der Impfung kritisch gegenüberstand [15,16]. In Grossbritannien und Spanien – beides Länder, in welchen wie erwähnt die Covid-19-Durchimpfungsrate bei Menschen über 50 Jahre sehr hoch ist – werden Menschen ab einem bestimmten Alter direkt und persönlich von den örtlichen Gesundheitsfachkräften kontaktiert oder es wird ihnen von der nationalen Gesundheitsbehörde eine Einladung zur Impfung zugestellt. Die Autoren der Swiss National Covid-19 Science Taskforce schlagen vor, diese Strategie auch in der Schweiz anzuwenden. Um die Bedeutung der Impfung zu kommunizieren, können folgende Argumente hilfreich sein [1]:
- Die beiden in der Schweiz angebotenen Impfstoffe bieten einen ausgezeichneten Schutz vor schweren Erkrankungen und Todesfällen.
- Die meisten Krankheitsfälle und Krankenhausaufenthalte mit Covid-19 in der Schweiz und im Ausland ereignen sich bei Ungeimpften.
- Ungeimpfte haben ein höheres Risiko, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken und das Virus auf andere zu übertragen.
- Eine Impfung ist die wirksamste Massnahme, sich selbst und andere, einschliesslich das Gesundheitspersonal zu schützen und damit auch Arbeitsplätze und die Wirtschaft insgesamt.
* An der dritten Befragungsrunde der Covid-19-Zusatzbefragung, welche im Rahmen der jährlich stattfindenden sozialwissenschaftlichen MOSAiCH-Erhebung im Zeitraum Mitte März bis Mitte April 2021 durchgeführt wurde, beteiligten sich 1245 Personen. Die Resultate wurden statistisch gewichtet, um eine bessere Repräsentativität für die Schweizer Bevölkerung zu erreichen [15,16].
Zwar kann es zu Durchbruchsinfektionen kommen, diese machen jedoch nur einen geringen Prozentsatz der neuen Fälle aus und grossmehrheitlich sind die Verläufe mild. Die allermeisten Geimpften sind somit im Gegensatz zu den Ungeimpften vor schwerer Krankheit und Tod geschützt.
Erfahrungswerte zeigen, dass für eine wirkungsvolle Impfkampagne verschiedene Massnahmen kombiniert werden müssen [7]. Unter anderem werden in verschiedenen Ländern zur Erhöhung der Impfabdeckung auch direkte Anreize und Belohnungen eingesetzt.
Wie gefährlich ist die Deltavariante?
Seit Kalenderwoche 26 ist Delta (B.1.617.2) die dominante Variante in der Schweiz. Diese ursprünglich in Indien beschriebene Variante hatte in der Kalenderwoche 19 eine Häufigkeit von 1%, in der Kalenderwoche 24 eine Häufigkeit von 24% und in der Kalenderwoche 29 eine Häufigkeit von 98% unter den sequenzierten Fällen [8]. Aufgrund von Verzögerungen, mit denen die Sequenzen erfasst werden, können sich diese Häufigkeit, vor allem in Kalenderwoche 29, noch ändern. Aus diesem Anstieg der Häufigkeit von Delta kann man einen Transmissionsvorteil gegenüber Alpha von 67–75% berechnen [8]. Delta scheint schwerere Verläufe zu verursachen als die zuvor in der Schweiz dominierenden Stämme. Die Daten aus Schottland [9] deuten darauf hin, dass eine Infektion mit Delta rund doppelt so häufig zur Hospitalisierung führt wie eine Infektion mit Alpha (hazard ratio 1,39–2,47). Daten aus Kanada zeigen einen Anstieg des Hospitalisierungsrisikos um 120% (93–153%) gegenüber den in 2020 zirkulierenden Stämmen [1,10]. Der Impfschutz gegen Infektion und symptomatischer Erkrankung scheint bei Delta reduziert zu sein. Ein neuer Bericht des CDC zeigt auf, dass Delta vollständig geimpfte Menschen mit relevanter Häufigkeit infizieren kann [17]. Studien welche die Wirksamkeit von mRNA Impfstoffen gegen eine Infektion quantifizieren sind am Laufen. Die Wirksamkeit gegen Infektion des Impfstoffs von Pfizer/BioNtech ist laut Daten aus Israel bei 39% (9–59%) [11] und laut Daten aus Schottland bei 79% (75–82%) [9]. Die Daten aus Israel deuten zudem darauf hin, dass die Wirksamkeit von Impfungen gegen symptomatische Infektionen bei 40,5% (8,7–61,2%) [11] liegen. Daten aus England deuten auf 79% (78–80%) [12] und Daten aus Kanada auf 85% (78–89%) [13] (Pfizer/BioNtech und Moderna). Bisher ist unklar, warum die Wirksamkeit in Israel tiefer zu sein scheint als in anderen Ländern: Nachlassende Impfwirkung bei früh geimpften Personen in Israel, unterschiedliche Impfstoffe (in Kanada neben Pfizer/BioNtech auch Moderna) oder das prolongierte Zeitintervall zwischen den beiden Impfungen (insbesondere in UK) könnte eine Rolle spielen. Wichtig ist jedoch, dass eine Wirksamkeit von 40% gegen Infektion immer noch bedeutet, dass 4 in 10 Infektionen verhindert werden können und damit auch die Übertragungsdynamik nach wie vor verlangsamt wird durch die Impfung [1].
Literatur:
- Swiss National Covid-19 Science Taskforce, 3.8.21, https://sciencetaskforce.ch/wissenschaftliches-update-3-august-2021 (letzter Abruf 06.08.21)
- BAG: Information an die Kantone und die Sozialpartner bzgl. der geplanten Konsultation Ende Juli 2021 Dokument vom 28. Juli 2021 zur Information an die Kantone und die Sozialpartner, www.bag.admin.ch/bag/de/home/ krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien (letzter Abruf 06.08.21)
- Office for National Statistics: Coronavirus (COVID-19) Infection Survey, antibody and vaccination data, UK: 21 July 2021. www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/healthandsocialcare/conditio… (letzter Abruf 06.08.21)
- Gobierno de Espana, www.mscbs.gob.es/profesionales/saludPublica/ccayes/alertasActual/nCov/do…, (letzter Abruf 06.08.21)
- BAG: www.covid19.admin.ch/en/vaccination (letzter Abruf 06.08.21)
- Swiss National Covid-19 Science Taskforce, 20.7.21, https://sciencetaskforce.ch/en/scientific-update-of-20-july-2021 (letzter Abruf 06.08.21)
- Wood S, Schulman K: N Engl J Med 2021; 384: e23
- covSPECTRUM, https://cov-spectrum.ethz.ch (letzter Abruf 06.08.21)
- Sheikh A, et al.: The Lancet 2021; 397(10293): 2461–2462.
- Fisman DN, Tuite AR : Progressive Increase in Virulence of Novel SARS-CoV-2 Variants in Ontario, Canada, www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.07.05.21260050v2 (letzter Abruf 06.08.21
- gov.il, www.gov.il/BlobFolder/reports/vaccine-efficacy-safety-follow-up-committe… (letzter Abruf 06.08.21)
- Public Health England, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploa… (letzter Abruf 06.08.21)
- COVID-19 Alberta statistics, www.alberta.ca/stats/covid-19-alberta-statistics.htm#vaccine-outcomes (letzter Abruf 06.08.21)
- BAG: Konzeptpapier Mittelfristplanung», 30.06.2021, www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/…, (letzter Abruf 06.08.21)
- Monsch G-A, Nisple K, Steinmetz S: Die Impfbereitschaft in der Schweiz: Wer will, wer nicht will, und aus welchen Gründen. www.defacto.expert/2021/07/08/die-impfbereitschaft-in-der-schweiz-wer-wi…(letzter Abruf 06.08.2021)
- FORS, https://forscenter.ch/projekte/fors-covid-19-erhebungen/?lang=de (letzter Abruf 06.08.2021)
- CDC, Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), www.cdc.gov/mmwr/volumes/70/wr/mm7031e2.htm?s_cid=mm7031e2_w, (letzter Abruf 06.08.2021)
HAUSARZT PRAXIS 2021; 16(8): 4–5 (veröffentlicht am 19.8.21, ahead of print)
Mirjam Peter, M.Sc.