Das vom American College of Rheumatology (ACR) und der European League against Rheumatology (EULAR) gemeinsam entwickelte und 2022 veröffent­lich­te Update der Klassifikationskriterien für Riesenzellarteriitis trägt insbesondere den Fortschritten im Bereich der Bildgebungsdiagnostik Rechnung und löst die aus den 1990-er Jahren stammende frühere Klassifikation ab. Permanenter Sehverlust ist eine gefürchtete Komplikation der Riesenzell­arteriitis, wobei deren Häufigkeit seit der Ära der Glukokortikoid-Behandlung auf 10–20% zurückgegangen ist.

Die Riesenzellarteriitis zählt wie die Takayasu-Arteriitis zu den Grossgefässvaskulitiden. Sie betrifft die vom Aortenbogen entspringenden Gefässe und besonders die extrakranialen Äste der Karotiden. Zu häufigen Symptomen der Riesenzellarteriitis (RZA) zählen Kopfschmerzen, konstitutionelle Symptome, Kieferkrämpfe, Empfindlichkeit der Kopfhaut, Sehstörungen und erhöhte Entzündungsmarker [1]. Prof. Dr. med. Thomas Daikeler, Leitender Arzt, Rheumatologie, Universitätsspital Basel, gab einen aktuellen Überblick über Diagnostik und Behandlung der RZA [2]. Der unspezifische Charakter vieler RZA-assoziierter Symptome kann Patienten davon abhalten, ihren Hausarzt zu konsultieren und zu Fehldiagnosen führen [3]. Eine kürzlich durchgeführte Sekundäranalyse berichtete über eine mittlere Diagnoselatenz zwischen dem Auftreten der Symptome und der RZA-Diagnose von 9 Wochen [3,4]. Ein zwingend erforderliches Kriterium für eine Riesenzellarteriitis ist ein Alter ≥50 Jahre zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Zusätzliche klinische Kriterien werden mit einem Punktesystem gewichtet (Tab. 1) [5]. Clusteranalysen vaskulärer Bildgebungsdaten identifizierten eine bilaterale axilläre Beteiligung und ein erhöhtes Uptake von  18-FDG (Fluordesoxyglukose) in der Positronenemissionstomografie (PET) der Aorta als spezifische Bildgebungsmuster für RZA. 

ACR/EULAR-Klassifikationskritierien für Riesenzellarteriitis

Im Zeitraum Januar 2011 bis Dezember 2017 wurden im Rahmen der DCVAS («The Diagnostic and Classification Criteria for Vasculitis»)-Studie Teilnehmer aus 136 Standorten in 32 Ländern rekrutiert [5]. Insgesamt standen 942 Fälle von bestätigter Riesenzellarteriitis für die Analyse zur Verfügung. Nur bei 7 von 942 Patienten mit RZA wurde die Diagnose im Alter von <50 Jahren gestellt. Daher wurde dieser altersbezogene Cut-off als übergeordnetes Kriterium festgelegt. Für die anschliessende Analyse wurden 756 RZA-Fälle nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und ausbalanciert mit einer Kontrollgruppe verglichen. Nach ­einem datengesteuerten Expertenkonsensverfahren wurden insgesamt 72 Items der DCVAS-Case Reports in die Regressionsanalyse einbezogen. 

Die Auswertung resultierte in den folgenden mit Punkten gewichteten klinischen ACR/EULAR-Klassifikationskritierien der Riesenzellarteriitis (Tab. 1) [5]: 

  • eine positive Temporalarterien (TA)-Biopsie oder TA Halo-Zeichen im Ultraschall (+5)
  • eine Erythrozyten-Sedimentationsrate (ESR) ≥50 mm/h oder C-reaktives Protein (CRP) ≥10 mg/l (+3)
  • plötzlicher Visusverlust (+3)
  • Morgensteifigkeit (Schultern oder Nacken), Claudicatio (Kiefer oder Zunge), neu auftretende temporale Kopfschmerzen, schmerzempfindliche Kopfhaut, TA-Abnormitäten in der Gefässuntersuchung, bilaterale Beteiligung der Arteria axillaris in der Bildgebung und FDG-PET-Aktivität in Aorta (jeweils +2)

Ausgehend von diesen 10 Kriterien wurde ein kumulativer Punktwert ≥6 für die Klassifikation als RZA festgelegt (Tab. 1). Bei der Testung dieser Kriterien im Validierungsdatensatz ergab sich eine Fläche unter der Kurve (Area under the curve, AUC) von 0,91 (95%-KI; 0,88–0,94) mit einer Sensitivität von 87,0% (95%-KI; 82,0–91,0%) und Spezifität von 94,8% (95%-KI; 91,0–97,4 %) [5,6]. 

Nicht selten ist eine Riesenzellarteriitis mit  Polymyalgia rheumatica (PMR) vergesellschaftet. Es wird diskutiert, ob PMR eine Minorvariante der RZA ist. Der Referent verwies auf eine 2022 veröffentlichte Sekundäranalyse, derzufolge mehr als ein Viertel der Patienten mit PMR eine subklinische RZA hatten. Bei entsprechendem Verdacht ist die Durchführung bildgebender Untersuchungen aufschlussreich [7]. 

Systemische Glukokortikoide als Therapiestandard 

Die schwerste Komplikation der Riesenzellarteriitis bleibt der permanente Verlust der Sehkraft. Dieser beruht in den meisten Fällen auf anteriorer ischämischer Optikusneuropathie mit Beteiligung der hinteren Ziliararterien oder auf dem Verschluss der zentralen Arterie der Netzhaut [8]. Vor der Einführung der Glukokortikoidtherapie bei der RZA trat ein permanenter Verlust der Sehkraft in 40–48% der Fälle auf. In den letzten Jahrzehnten sank diese Rate auf 10–20%, berichtete Prof. Daikeler [2,3]. In der Schweiz hat sich die Empfehlung, bei Verdacht auf eine RZA sofort eine systemische Glukokortikoidtherapie einzuleiten, im Praxisalltag durchgesetzt [3]. Unbehandelt ist das Risiko für eine bilaterale anteriore ischämische Optikusneuropathie hoch [3,9]. Vorübergehende visuelle Symp­tome, höheres Alter und niedrigere Werte von Entzündungsmarkern im Blut sind Risikofaktoren für einen drohenden Verlust der Sehkraft [3]. Ist der Sehverlust einmal eingetreten, ist er in der Regel dauerhaft, und es werden Glukokortikoide verabreicht, um die verbleibende Sehkraft zu erhalten [10]. 

«Tapering» und Tocilizumab als add-on in Erwägung ziehen 

Bei aktiver RZA wird empfohlen, sofort eine hochdosierte Glukokortikoid-Therapie (40–60 mg/Tag Prednisonäquivalent) zur Induktion einer Remission einzuleiten [11]. Sobald die Krankheit unter Kontrolle ist, kann die Glukokortikoid(GC)-Dosis innerhalb von 2–3 Monaten auf eine Zieldosis von 15–20 mg/Tag und nach einem Jahr auf ≤5 mg/Tag reduziert werden. Das Risiko eines Rückfalls ist bei der Riesenzellarteriitis zwar hoch, doch eine beträchtliche Anzahl von Patienten mit RZA unter GC-Monotherapie bleibt ohne Rückfall, sodass die GC-Dosis nach einem Jahr auf einen Zielwert von ≤5 mg/Tag reduziert werden kann – eine Dosis, die von der EULAR-Taskforce hinsichtlich Sicherheit als akzeptabel eingeschätzt wird [11]. 

Die zusätzliche Verabreichung von Tocilizumab (TCZ) kann das Risiko eines Rückfalls und die kumulative GC-Belastung im Vergleich zur GC-Monotherapie verringern. Dies zeigen zwei randomisiert-kontrollierte klinische Studien bei Patienten mit RZA [12,13]. Angesichts der hohen Prävalenz von Komorbiditäten in der Subpopulation der älteren RZA-Betroffenen, sollte die Entscheidung für eine begleitende TCZ-Therapie beim einzelnen Patienten gegen die potenziellen Risiken für behandlungsbedingte Komplikationen abgewogen werden. Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis wurde unter TCZ ein erhöhtes Risiko für Perforationen des unteren Darms festgestellt [11,14]. Im Gegensatz zu Tocilizumab ist Methotrexat gemäss den Erkenntnissen einer 2021 veröffentlichten Metaanalyse nicht signifikant mit einer geringeren Rückfallquote assoziiert [15]. 

Zum Schluss wies der Referent noch auf die «National cohort for Swiss Clinical Quality Management in Rheumatic Diseases» (SCQM) hin [2,16]. Von diesen Registerdaten erhofft man sich neue therapierelevante Erkenntnisse.    

Kongress: Allergy and Immunology-Update (SGAI) 

Literatur:

  1. Ponte C, Águeda AF, Luqmani RA: Clinical features and structured clinical evaluation of vasculitis. Best Pract Res Clin Rheumatol 2018; 32: 31–51.
  2. «GCA management», Prof. Dr. med. Thomas Daikeler, Allergy and Immunology Update, 27.–29.1.2023
  3. Hemmig AK, et al.: Long delay from symptom onset to first consultation contributes to permanent vision loss in patients with giant cell arteritis: a cohort study. RMD Open 2023 Jan; 9(1):e002866.
  4. Prior JA, et al.: Diagnostic delay for giant cell arteritis – a systematic review and meta-analysis. BMC Med 2017; 15: 120
  5. Ponte C, et al.; DCVAS Study Group. 2022 American College of Rheumatology/EULAR Classification Criteria for Giant Cell Arteritis. Arthritis Rheumatol 2022; 74(12): 1881–1889.
  6. «Grossgefässvaskulitiden: Gemeinsame ACR/EULAR-Klassifikationskriterien 2022», 01.2023,
    www.rheumamanagement-online.de/literatur-news/detailansicht/gemeinsame-acr-eular-klassifikations
    kriterien-2022-publiziert
    , (letzter Abruf 28.02.2023) 
  7. Hemmig AK, et al.: Subclinical giant cell arteritis in new onset polymyalgia rheumatica A systematic review and meta-analysis of individual patient data. Semin Arthritis Rheum 2022 Aug; 55: 152017.
  8. Biousse V, Newman NJ: Ischemic optic neuropathies. N Engl J Med 2015; 372: 2428–2436.
  9. Liu GT, et al.: Visual morbidity in giant cell arteritis. Clinical characteristics and prognosis for vision. Ophthalmology 1994; 101: 1779–1785. 
  10. Héron E, et al.: Ocular complications of giant cell arteritis: an acute therapeutic emergency. J Clin Med 2022; 11. doi:10.3390/jcm11071997. [Epub ahead of print: 02 04 2022].
  11. Hellmich B, et al.: 2018 Update of the EULAR recommendations for the management of large vessel vasculitis. Ann Rheum Dis 2020; 79(1): 19–30.
  12. Stone JH, et al.: Trial of tocilizumab in giant-cell arteritis. N Engl J Med 2017; 377: 317–328 
  13. Villiger PM, et al.: Tocilizumab for induction and maintenance of remission in giant cell arteritis: a phase 2, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. The Lancet 2016; 387: 1921–1927. 
  14. Strangfeld A, et al.: Risk for lower intestinal perforations in patients with rheumatoid arthritis treated with tocilizumab in comparison to treatment with other biologic or conventional synthetic DMARDs. Ann Rheum Dis 2017; 76: 504–510
  15. Gérard AL, et al.: Efficacy and safety of steroid-sparing treatments in giant cell arteritis according to the glucocorticoids tapering regimen: A systematic review and meta-analysis. Eur J Intern Med 2021; 88: 96–103.
  16. «National cohort for Swiss Clinical Quality Management in Rheumatic Diseases» (SCQM), www.scqm.ch, (letzter Abruf 28.02.2023) 
  17. Stanca HT, et al.: Giant cell arteritis with arteritic anterior ischemic optic neuropathy. Rom J Morphol Embryol 2017; 58: 281–285. 
  18. Jianu DC, et al.: Ultrasound Technologies and the Diagnosis of Giant Cell Arteritis. Biomedicines 2021, 9, 1801. https://doi.org/10.3390/biomedicines9121801

HAUSARZT PRAXIS 2023; 18(3): 30–32 (veröffentlicht am 16.3.23, ahead of print)

Mirjam Peter, M.Sc. 

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